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Für die aktuelle gift-Ausgabe ist ein Doppelporträt über zwei renommierte Bühnendarstellerinnen entstanden, die einer Familie entspringen: Anna Mendelssohn und ihre Mutter Jutta Schwarz.

Im ersten Teil stellt Astrid Peterle die Sprachkünstlerin und Performerin Anna Mendelssohn, die einem größeren Publikum durch ihre Arbeit mit toxic dreams bekannt wurde, mit Rückblick auf persönliche Begegnungen vor. Im Anschluss findet sich ein Gespräch, in das Anna Mendelssohn ihre Mutter, die 1941 in Wien geborene Schauspielerin und Regisseurin Jutta Schwarz, die knapp zwei Jahrzehnte die Leitung des nonverbalen StraßenBewegungsTheaters vis plastica trans.gen inne hatte, verwickelt hat.

GIFT, Zeitschrift  für Freies Theater, 03 2020

Sprache auf den Punkt

Anna Mendelssohn im sehr persönlichen Porträt, ein Porträt von Astrid Peterle

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Foto: Tom Marschall

Der pure Zufall in Form eines farbigen Punktes brachte mich im Jahr 2005 mit Anna Mendelssohn zusammen:

Bei den Wiener Festwochen wurde ich für David Mayaans „Familientisch“ mittels meiner Eintrittskarte jener kleinen Besucher_innen-Gruppe zugeordnet, die Anna auf ihrer biografischen Reise durch Wien folgen sollte. Die junge Performerin kannte ich zuvor nicht, nach diesem Abend konnte ich sie jedoch nicht mehr vergessen. Selten fühlte ich mich von einer Performance so berührt – daran hat sich auch 15 Jahre später nichts geändert. Unvergesslich bleibt mir Annas eindringliche, ruhige Stimme, die eine intime Stimmung kreierte, während sie uns durch den Stadtraum auf den Spuren ihrer Kindheit, ihres Erwachsenwerdens und vor allem ihrer Familie vom 9. Wiener Bezirk über die Ringstraße und den Theseustempel bis zum Wiener Westbahnhof führte. Ihr Kopf war dabei streckenweise unter einem Haus versteckt – ein sehr bezeichnendes Symbol für eine Familiengeschichte, die zutiefst von unfreiwilligen und freiwilligen Reisen geprägt ist. Stets präsent in Annas Erzählungen an diesem Abend war ihre verstorbene Großmutter, die bekannte österreichische Literatin und Kritikerin Hilde Spiel (1911–1990). Deren Lebensstationen führten sie von Wien über das Exil in London schließlich in den 1960er-Jahren nach der endgültigen Rückkehr wieder nach Wien und an den geliebten Wolfgangsee – Orte,die auch Annas Leben nachhaltig beeinflussten. Hilde Spiel sollte Anna und mich zwölf Jahre später wieder zusammenführen, aber dazu später. Bereits beim „Familientisch“ war Annas große Faszination und Feinfühligkeit für Sprache, deren Wirkkraft und Nuancenreichtum spürbar. Die Sprache, in der sie sich bis heute als Performerin am meisten zu Hause fühlt, ist die englische. Das mag im ersten Moment für eine 1976 in Wien geborene Künstlerin mit Muttersprache Deutsch überraschen. Jedoch erstaunt es nicht weiter bei näherer Betrachtung ihres Lebenslaufs und ihrer Familie: Ihr Vater Felix de Mendelssohn, ein Psychoanalytiker, wurde 1944 als Sohn Hilde Spiels im Londoner Exil geboren. Jahrzehnte später zog es seine Tochter nach einem abgebrochenen Psychologiestudium ebenfalls nach England. Am Dartington College und in Bretton Hall studierte Anna Schauspiel. Fasziniert war sie schon immer vom „physical theatre“, das sie an ihren Ausbildungsstätten zu finden hoffte, denn die Sehnsucht nach klassischen Formen des Sprechtheaters hielt sich schon damals in Grenzen. Ein unerwarteter Ruf brachte sie bereits kurz nach dem Studium wieder zurück in ihre Heimatstadt: Kornelia Kilga vom Wiener Ensemble toxic dreams bat Anna, für eine verhinderte Schauspielerin einzuspringen. Damit begann die bis heute andauernde enge Zusammenarbeit

mit toxic dreams und Yosi Wanunu. In mehr als 30, meist englischsprachigen Produktionen des Ensembles war Anna Mendelssohn bisher zu sehen. Sie schätzt die vertrauensvolle Arbeit mit dem Regisseur Wanunu, die 

schlafwandlerische Sicherheit im gegenseitigen Verständnis und die vertrauensvolle Intimität in der Kommunikation während der Entwicklungs- und Probenprozesse. 

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toxic dreams, Home of the Not so Brave, 2017, brut Vienna

Im Lauf einer so langen und umfangreichen beruflichen Partnerschaft gibt es einige Momente und Projekte, die

besonders im Gedächtnis bleiben: Zu Annas persönlichen Highlights gehören Kongs, Blondes and Tall Buildings

aus dem Jahr 2007, in der nicht nur die King-Kong-Figur kulturhistorisch dekonstruiert wurde, sondern auch die stereotypen Frauenfiguren, die mit King Kong meist einhergehen. Thomas B or Not ermöglichte Anna im Jahr 2016 eine brillante Performance: Mit viel Screwball- Dynamik, Humor und klugen Verflechtungen seziert das Stück den Theater- und Performancebetrieb, indem Kunst und Alltag ineinander verschwimmen. Es ist eines der vielen Beispiele für Annas feines Gespür in Sachen Komödie, das sie zuletzt wieder für toxic dreams in der

mehrteiligen Performance-Reihe The Bruno Kreisky Lookalike – für die das Ensemble 2019 den Nestroy-Theaterpreis für die „Beste Off-Produktion“ erhielt – offenbarte. Vor etwas mehr als zehn Jahren begann Anna mit der Entwicklung eigener Projekte, in denen sie häufig auch solo auftritt. Hier tritt ihre tiefgehende 

Auseinandersetzung mit Rhetorik und ihre Faszination für politische Potentiale von Sprache besonders deutlich hervor. Ihr erstes Solo-Projekt Cry Me A River, das sie 2010 am Tanzquartier Wien uraufführte, erscheint retrospektiv nahezu als prophetisch, schließlich ist dessen Thema heute aktueller denn je. Über 60 Mal hat sie die Performance bisher international gezeigt und die Einladungen reißen nicht ab. Kein Wunder, denn Anna verstand schon vor über zehn Jahren die emotionale Seite des Klimawandels, die Trauer, Wut und Angst, die er in Menschen auslöst, treffsicher in einen Monolog zu verpacken, der auch vor Tränen nicht zurückschreckt. Im Jahr 2018 performte Anna erstmals den Monolog Free Speech! ? im Rahmen der Konferenz „Concerning Matters and Truths, Postmodernism‘s Shift and the Left-Right-Divide“ im Haus der Kulturen in Berlin. In einer geschickt verwobenen Collage aus Reden und Texten von „links“, wie auch „rechts“ zugewandten Autor_innen, Aktivist_innen und Wissenschaftler_innen sowie eigenen Texten spielt Anna gekonnt mit der Form der Brandrede: In Zeiten von Fake News, Echokammern und Shitstorms dreht sich die Performance um die Frage, wer heute in welchen Kontexten was sagen darf und inwieweit die „Linke“ ihren traditionellen Kampf für Redefreiheit an die „Rechte“ verloren hat.

toxic dreams, Limonov, 2018, das TAG, Vienna                                     toxic dreams, Thomas B or Not, 2016, brut ,Vienna

Wenn Anna Mendelssohn nicht auf der Bühne steht oder an Filmen arbeitet, dann widmet sie sich der Sprache im therapeutischen Dialog und dem genauen Hinhören.

Das Nachdenken über die Sprache als Medium der Politik und Hilde Spiel haben Anna und mich, wie bereits oben

angekündigt, 2017/18 wieder zusammengeführt. Als Kuratorin des Jüdischen Museums Wien habe ich Anna eingeladen,

für die Ausstellung The Place to Be. Salons als Orte der Emanzipation einen Film zu gestalten. In meiner Definition des Salons als einen Ort des politischen Sprechens erschien mir Anna mit ihrer Feinfühligkeit für diese Qualität der Sprache ideal, um einen künstlerischen Beitrag zu gestalten und damit die Institution Salon, die bis 1938 in Wien stark von jüdischen Frauen geprägt wurde, in die Gegenwart zu holen.Hilde Spiel wiederum nahm in der Ausstellung eine prominente Rolle ein, denn sie veröffentlichte 1962 ein Buch über die Wiener Salon-Pionierin Fanny von Arnstein und fungierte nach ihrer Rückkehr nach Österreich am Wolfgangsee selbst als Salonière. Annas Film Salon Talk zeigt ein zeitgenössisches Salongespräch, in dem sie mit einer kleinen, von ihr eingeladenen Runde von Personen die Themen Emanzipation, Identität und Feminismus diskutiert. Im Originalinterieur des Salons von Josephine und Franziska von Wertheimstein in Wien Döbling (re)aktivieren Anna als Salonière und ihre Salongäste Dudu Kücükg.l, Jens Kastner, Gin Müller und Elisabeth Tambwe durch Konversation den musealen Ort als einen Raum, in dem – wie einst in den Salons – eine andere Gesellschaft denkbar wird. 

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Filmstill Ordinary Creatures

In ein für sie völlig neues Format hat sich Anna vor einigen Jahren gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Thomas Marschall getraut: Gemeinsam schrieben sie ein Drehbuch zu einem Spielfilm mit dem Titel Ordinary Creatures, der seinen Ausgang in Annas Performance What? gefunden hat. In dieser tragen Anna und Joep van der Geest einen Konflikt aus, in der in einer stürmischen Paardynamik politische Uneinigkeiten und persönliche Verletzungen fließend ineinander übergehen. Im Film, der bei der heurigen, auf Grund der Covid-19-Pandemie nicht stattgefundenen Diagonale in Graz seine Welturaufführung hätte feiern sollen, begeben sich Anna und Joep unter Regie von Thomas Marschall in absoluter Selbstbezogenheit auf eine Autoreise, die das Paar und das Publikum von heftigen verbalen Uneinigkeiten über Momente absoluter Innigkeit und schräge Begegnungen quer durch lichtdurchflutete, gleisende Landschaften auf ein überraschendes Ziel hinführt. In diesem außergewöhnlichen Jahr findet der Film nun im Oktober in einer Kooperation zwischen Diagonale und Viennale endlich seine Uraufführung auf großer Leinwand. Wenn Anna Mendelssohn nicht auf der Bühne steht oder an Filmen arbeitet, dann widmet sie sich der Sprache im therapeutischen Dialog und dem genauen Hinhören. Vor einigen Jahren knüpfte sie ans einst abgebrochene Studium der Psychologie an, begann das Studium der Psychotherapiewissenschaft und arbeitet nun als Psychotherapeutin in Ausbildung unter Supervision in freier Praxis. Die Improvisation, die Neugierde und das Sich-Einstellen-und-Einlassen auf Andere, all diese Elemente sind für Anna essentiell, in der Kunst und in ihrer therapeutischen Arbeit.

Wir alle dürfen neugierig bleiben auf die vielen weiteren Projekte, die bereits in Anna schlummern. Ich persönlich

bin gespannt, wann Anna und ich unsere dritte einschneidend- nachhaltige Begegnung erleben werden, wobei ich

mich 15 Jahre später glücklich schätze, dass diese nicht mehr nur als Künstlerin und Betrachterin stattfinden wird, sondern in einem freundschaftlichen Dialog.

Astrid Peterle

Anna Mendelssohn im Gespräch mit ihrer Mutter - der Schauspielerin Jutta Schwarz

„Wenn uns die Realität mehr aufrüttelt als das Theater, was wollen wir dann auf der Bühne sehen?“

 

ANNA: Was fasziniert Dich am Theater?

JUTTA: Ich glaube es ist mein Interesse an Kommunikation: wie gehen wir miteinander um, - mit dem Du, dem Anderen, mit der Gemeinschaft, der Welt, mit uns selbst… ich will - seit Kindheit - verstehen, „was da gespielt wird“, mich zurechtfinden im Zusammenspiel unterschiedlicher Perspektiven, - und ich will mitspielen. 

 Für mich ist Theater ein  Versuchslabor der Kommunikation, dessen Ergebnisse gültig, aber nie endgültig sind. Diese Vorläufigkeit erlebe ich als befreiend – und zugleich löst das Gefühle tiefer Verbundenheit aus. Ist das die Faszination? So scheints mir jedenfalls jetzt, im Alter.  Aber Du stehst jetzt mitten im Leben, was bedeutet Theater für Dich?

 

ANNA: Ich finde Deine Antwort ganz wunderbar. Mir geht es genauso, das Thema Kommunikation - wie wir sprechen, miteinander sprechen, uns über die Dinge, die uns bewegen, verständigen, ist für mich auch ganz zentral. Als Schauspielerin liegt für mich die Kraft im Spiel mit den Feinheiten der Sprache. Wenn ich ein Wort ein bisschen anders betone, verändert das vielleicht den ganzen Satz und dann auch alle weiteren. Gleichzeitig wird es immer ein bisschen anders sein, in jeder Probe, bei jeder Aufführung. Ich muss also sehr genau zuhören, den Anderen, aber auch mir selbst. Das Aufregende am Theater ist außerdem, dass auch das Publikum - jeder Lacher, jeder Blick ins Programmheft - alles verändert. Das macht die Sache natürlich verletzlich - das kann schön und auch sehr schmerzhaft sein. Ich kann mich an viele Momente erinnern, an denen ich am liebsten im Boden versunken wäre. Warum tut man sich das also an? 

 

JUTTA: Ich glaub. man tut sich das an, eben weil es so ein Grenzgang ist. Man will sich ja nicht an der Schwimmbad-Reling durchs Leben hanteln, anstatt sich ins offene Wasser zu wagen. Man will ja die Herausforderung, will sein Potential auch verwirklichen. Wenns gelingt, ist das ein großes Glücksgefühl, aber die Momente des Absturzes können auch ganz schön grausam sein. Ich erinnere mich gut an solche Augenblicke des Gesichtsverlusts, das Gefühl, mein Gesicht, meine ganze Fassade, bröckelt ab und zum Vorschein kommt - sichtbar für jeden - das arme Würmchen, das ich bin.  Versinken, in den Boden verschwinden, ist alles was man da denkt, aber vielleicht ist Sich-eingraben auch ganz gut:  mit sich selbst konfrontiert sein,  herausfinden um was es mir „eigentlich“ geht…

Im Theater geht’s ja  ständig um Gesichtsverlust, im Tragischen wie im Komischen, um Entlarvung, das Aufdecken von Motiven, die Konfrontation mit den Folgen, etc. Die Hoffnung ist, dass sich diese Erfahrung aus dem Spiel in das reale Leben überträgt, dass sie den Blick schärft für die allgegenwärtigen Maskeraden, das wäre der gesellschaftspolitische Anspruch. 

Vielleicht kann man sagen, uns geht’s beiden im Grund, nicht nur auf das Theater bezogen, um Kommunikation, um die Feinheiten, die so viel auslösen können, um die Fragilität des Hier und Jetzt, das immer nur Vorläufige… Verbundenheit kann sich als Abhängigkeit erweisen - und vice versa. Um diese Themen geht’s ja auch ganz real zwischen uns. Wir leben ja nebeneinander, die Kinder laufen durch den gemeinsamen Garten, in dieser Nähe kommt die kommunikative Balance auch manchmal ins Wanken.  Wir arbeiten noch dazu im gleichen Metier, und manchmal kreuzen sich auch dort unsere Wege.  Meine Frage wäre: Wie geht’s Dir damit? Ganz abgesehen vom Praktischen… 

 

ANNA: Ich habe einmal bei Nietzsche etwas gelesen, das in etwa sagt - natürlich ist es klug, in das Metier der Eltern einzusteigen, denn darauf kann man aufbauen. 

Ich hatte sicherlich das Glück mit zwei Eltern aufzuwachsen, die ihren Beruf geliebt haben und zuhause gerne und viel über ihre Arbeit gesprochen haben. Das wirkt inspirierend - wenn man spürt, dass der Beruf etwas ist, dass die Eltern glücklich macht.

Aber natürlich hat es auch viel Konfliktpotential, wenn man denselben Beruf ausübt. 

Du tauschst Dich gerne über alles aus, was Du Dir anschaust und gibst sehr präzises Feedback. Ich weiß, dass Du immer ehrlich bist, auch in Deiner Kritik mir gegenüber. Obwohl ich daraus viel lernen kann, war es für mich immer wieder wichtig zu sagen, Deine Meinung dazu interessiert mich jetzt einfach nicht.

Kürzlich habe ich von Schauspielern gelernt, dass man in einer Szene immer nach dem Konflikt suchen muss, denn der macht es erst spannend für die Zuseher. 

Das hat mich überrascht, denn diese Faustregel habe ich nicht gekannt, obwohl ich mich viel mit Konflikten auf der Bühne auseinander gesetzt habe, gerade in meinen eigenen Arbeiten. Auf den ersten Blick macht das viel Sinn. Konflikte sind spannungsgeladen und aufregend, aber dauerhaft nützt es sich ab. Eigentlich sind Widersprüche für mich interessanter, denn dabei geht  es um unterschiedliche Perspektiven. Man kann über diese in Konflikt geraten, aber wenn man es schafft, kann man sie auch einfach neben einander stehen lassen, keiner muss gewinnen. We agree to disagree. Das ist nicht immer einfach, denn ich denke befriedigender ist es erstmal, wenn man Recht hat. Erinnerst Du dich noch  an den schönen Satz, den Felix immer so gern zitiert hat: „Nicht du hast Recht, ich habe Dir Recht gegeben!“

Du weißt ja, dass ich mich, vor allem in meinen eigenen Arbeiten, immer mit widersprüchlichen Stimmen beschäftige, die alle zu Wort kommen dürfen. Ich liebe diese Art von Komplexität und Ambivalenz. Politisch kann es aber gefährlich werden, wenn wir Linke uns beispielsweise nicht mehr trauen, zu irgendeinem Thema klar und offen Stellung zu beziehen, weil wir dann von anderen, vielleicht noch Linkeren, dafür angegriffen werden.  Wie siehst Du das? In den 70er Jahren war politische Kunst oft sehr didaktisch, oder? Du hast ja später auch Straßentheater gemacht, das eher poetisch, visuell war, mit vis plastica - aber viele Menschen sehr berührt hat. 

 

JUTTA: Für mich ist es wichtig, dass meine Arbeit einen gesellschaftspolitischen Bezug hat, allerdings vermeide ich meistens selbst klar und offen Stellung zu beziehen. Ich möchte lieber zum Mitdenken anregen. Bei vis plastica gings darum das Straßenpublikum hineinzuziehen in die Beobachtung einer fremden Erscheinungs- und  Ausdrucksform, in eine assoziative und emotionale Kooperation im Dechiffrieren dessen was diese „Aliens“ da abhandeln.  Das ist oft geglückt, trotzdem haben wir manchmal auch Aggressionen abgekriegt. Aber da haben immer gleich Leute aus dem Publikum eingegriffen und den beginnenden Konflikt deeskaliert. In solchen Momenten gehen Realität und Theater ineinander über: Dem theatralen Konflikt schaut das Publikum zwar interessiert zu, aber es greift nicht ein. Bei einem realen Konflikt in der Öffentlichkeit wäre eine solche Haltung Voyeurismus, Feigheit, Gleichgültigkeit… da brauchts Menschen, die eingreifen und Stellung beziehen: „let us agree to disagree“. Das tust Du auch mit Deiner letzten Arbeit „Free Speech“, Rede kann schließlich nur frei sein, wenn wir übereinstimmen, auch sehr gegensätzliche Positionen nebeneinander bestehen zu lassen. Alle Deine Statements in „Free Speech“ sind ja authentisch, auch die sehr extremen, da hab ich mich schon gefragt, könnte ich als Beobachterin eine solche Aussage in der Realität einfach (stillschweigend) bestehen lassen? Ich will durchaus nicht Canceling solcher Extrempositionen verlangen, das wäre meinerseits extrem, - aber ich muss reagieren, agieren - nur wie?  Das frag ich mich angesichts der allgemeinen Zustände immer wieder… Ich selber hab nur mehr begrenzte Möglichkeiten, verschärft durch Corona. Aber wenn  z.b. der Ö1 Nachrichtensprecher kommentarlos sagt: „Wissenschaftler stimmen überein, dass die Polschmelze nicht mehr aufzuhalten ist“, da bin ich dann sehr froh, dass Du mit „Cry me a River“ schon so lange durch die Lande tourst. Die Polschmelze ist ja das Thema dieser Performance, weit über 60 mal hast Du das glaub ich schon gespielt, weil es die Menschen sehr persönlich anspricht und trifft.  Jetzt im September wirst Du damit bei den Wiener Festwochen sein. Das freut mich besonders, weil es mir wichtig ist, dass möglichst viele Menschen sich gedanklich und emotional  mit dem  Klimawandel befassen – und Theater ist ein Medium, das aufrütteln kann. 

 

Anna: Direkt vor dem Lockdown im vergangenen März hätte ich mit Anna Maria Nowak eine Premiere im WUK haben sollen. Zuerst hat es noch geheißen, wir dürfen vor 50 Menschen spielen, aber dann wurde eine offene Probe für acht Zuseher daraus. In diesen Tagen ist die Realität zum Theater geworden. Es war wie Hollywood, dieser Nervenkitzel, das drohende Disaster. Es war einfach irreal. Alle haben gespielt, alle hatten Kostüme an und Schminke und Perücken auf, die Stadt war eine Kulisse.

Wenn uns die Realität mehr aufrüttelt als das Theater, was wollen wir dann auf der Bühne sehen? 

Ich glaube, was ich am Theater, oder in der Kunst, am allermeisten zu lieben gelernt habe, ist, dass es die Möglichkeit gibt, zu reagieren auf das was passiert,  einen persönlichen Ausdruck dafür zu finden. Ich habe eine Stimme. Auch wenn ich nicht immer weiß, was ich sagen will.

Foto: Thomas Marschall

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